Nacht in Caracas ist der Debütroman der 1982 in ebenda geborenen Autorin Karina Sainz Borgo. Sie verließ ihr Heimatland aufgrund der politischen Unruhen und lebt seitdem in Spanien. Dort arbeitet sie als Journalistin für verschiedene Zeitungen. Ende Februar 2023 erschien ihr zweiter Roman „Das dritte Land“. Ein Grund mehr, zunächst „Nacht in Caracas“ zu lesen…
Nacht in Caracas – Darum geht’s:
Schweren Herzens trägt Adelaida Falcón ihre Mutter zu Grabe, doch lang bleiben kann sie nicht. Auf dem Friedhof ist es genauso gefährlich wie überall in der Stadt, ja in ganz Venezuela. Terror, Tod und Angst greifen um sich, die Wirtschaft ist am Boden, Strom und Lebensmittel sind knapp. Während um sie herum Chaos herrscht, versucht Adelaida ein bisschen Normalität im Schutz ihrer Wohnung aufrechtzuerhalten. Als ihr diese gewaltsam genommen wird, hat sie keinen Zufluchtsort mehr. Doch dann tut sich unerwartet eine Möglichkeit auf, die sie nutzen muss, wenn sie überleben will.
Ein Land im Ausnahmezustand
Ich bin ehrlich – Venezuela ist weit weg und ich hatte absolut keine Ahnung, wie schlimm es um dieses Land steht. Nach Beenden des Buches hatte ich allerdings das Bedürfnis, mir die Lage etwas näher anzusehen. Seit 2016 gilt der landesweite Ausnahmezustand – bis heute. Das Auswärtige Amt warnt vor Reisen ins direkte Grenzgebiet zu Kolumbien und Brasilien – von Reisen in die übrigens Landesteile wird gänzlich abgeraten. Über 80% der Bevölkerung gelten als arm, für etwas Mehl stehen viele stundenlang an. Noch eindrücklich beschreibt die Protagonistin Adelaida die Zustände direkt vor ihrer Haustür aus der Ich-Perspektive.
„Um sechs Uhr abends noch auf der Straße zu sein, war ein dummes Spiel mit dem Leben. Alles Mögliche konnte den Tod bringen: ein Schuss, eine Entführung, ein Überfall. Stundenlang fiel der Strom aus, und der Sonnenuntergang bedeutete anhaltende Finsternis.“ (S. 18)
Es geht ums nackte Überleben
Immer wieder erinnert sich Adelaida an die Zeit, als sie klein war. Die Schwestern ihrer Mutter wohnen in einem weiter entfernten kleinen Ort, wo sie eine Art Pension betreiben. Die Erinnerungen an reife Mangos, jede Menge Maisfladen und Geborgenheit stehen im krassen Gegensatz zu den Zuständen, die Adelaida nun in der Stadt erlebt. Ihre Mutter starb, weil es weder ausreichend Medikamente noch medizinisches Personal gibt. Und selbst wenn es etwas gibt, kann es sich keiner leisten. Inflation hat alles Geld wertlos gemacht, wer Euroscheine auf dem Schwarzmarkt erstehen kann, hat etwas Glück – und die Möglichkeit der Bestechung.
Adelaidas Lage wird beinahe aussichtslos, als revolutionäre Gruppen – zum Teil nur aus Frauen bestehend – auch ihr Haus ins Visier nehmen. Bald bleibt ihr nur noch die Chance, einen ungewöhnlichen und riskanten Weg einzuschlagen, wenn sie überleben will.
Fazit: Nacht in Caracas
Karina Sainz Borgo hat mich direkt mit der Szene auf dem Friedhof in die Geschichte gezogen. Mich hat die Gewalt erschüttert und gleichzeitig fand ich es berührend, wie die Menschen versuchen, damit zu leben und sich ein kleines Stück heile Welt zu erhalten. Die Wendung, mit der der Roman aufwartet, hatte ich so nicht kommen sehen, das fand ich sehr spannend. Außerdem habe ich mich gefragt, ob das wirklich funktionieren kann. Wer das Buch liest, wird wissen, was ich meine 😉 Insgesamt hat mir das Buch gefallen, einfach weil es einen unverfälschten Blick in eine gänzlich andere Welt ermöglicht – eine Welt, die mehrere Millionen Menschen ihren Alltag nennen müssen. Es ist berührend, aufrüttelnd und definitiv lesenswert!