Heimat – ein deutsches Familienalbum ist eine Mischung aus Biografie, Graphic Novel und Geschichtsbuch. Nora Krug, Jahrgang 1977, wurde in Karlsruhe geboren und ist heute Professorin in New York. Mithilfe von originalen Dokumenten, Interviews und privaten Fotografien begibt sie sich auf die Suche nach ihrer eigenen Familiengeschichte und versucht die Frage zu klären: Was ist Heimat? Das Buch wurde mittlerweile in 15 Länder verkauft und für den Deutschen Jugendbuchpreis 2020 nominiert.
Heimat – Darum geht’s:
Die Begegnung mit einer älteren Dame auf einer New Yorker Dachterrasse gibt für Nora Krug den Anstoß, sich mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Die Dame erkennt an ihrem Dialekt, dass sie aus Deutschland stammt und berichtet, dass sie selbst vor Jahren dort war. Sie ist Überlebende eines Konzentrationslagers. Für Krug, die in Karlsruhe nahe dem amerikanischen Militärflughafen aufwuchs, stellt sich die Frage, was ihre eigenen Großeltern während der Nazizeit gemacht haben. Waren sie Mitläufer, Schuldige, Widerständler? Sie begibt sich auf Spurensuche…
„Wie kann man begreifen, wer man ist, wenn man nicht versteht, woher man kommt?“
Eine lebendige (Familien-)Geschichte
Das Buch, das aus dieser Suche heraus entstanden ist, ist einerseits sehr persönlich, bildet es doch die Familiengeschichte von Krug ab. Andererseits ist es ein Zeugnis der damaligen Zeit, gerade weil es zeigt, wie das Leben während des Nationalsozialismus in kleineren Gemeinden war – abseits der großen Städte wie Berlin oder Hamburg. Krug begibt sich auf die Suche nach ihrem Onkel, der in Italien gefallen ist, und versucht herauszufinden, wie unschuldig – oder schuldig – ihr Großvater war, der als Fahrschullehrer gearbeitet hat. Lang verloren gewesene Familienbande werden neu geknüpft, es gibt kein Vergessen, dafür ein Versuch zu verstehen.
Lesenswerte Graphic Novel
„Heimat“ wurde absolut zu Recht für den Deutschen Jugendbuchpreis nominiert, wie ich finde. Die Mischung aus handgeschriebenen Texten, Zeichnungen, privaten Fotos und offiziellen Dokumenten macht die (Familien-)Geschichte überaus greifbar und anschaulich. Durch das Buch zieht sich ein roter Faden, anhand dessen die Leser*innen Nora Krug in die Vergangenheit und wieder zurück begleiten. Viele Begrifflichkeiten, die gerade jüngeren Leser*innen vielleicht nicht bekannt sind, werden erklärt. Hinzu kommt der Versuch zu beschreiben, was genau eigentlich Heimat bedeutet. Es wird sehr deutlich, dass dieser Begriff neben dem offiziellen Duden-Eintrag noch eine weitere, wesentlich persönlichere und damit völlig individuelle Ebene hat.
Die Schuldigkeit einer Generation
Selbstverständlich stellt sich beim Lesen die Frage: Wie war das in meiner Familie? JEDE*R in Deutschland hat Eltern und/oder (Ur-)Großeltern, die die Zeit des Nationalsozialismus erlebt haben. Wer waren diese Menschen damals, was haben sie getan – oder eben auch nicht? Haben sie Juden gekannt? Haben sie weggesehen, es ignoriert oder gar geholfen – im guten wie im schlechten Sinne?
Nach dem Krieg wurde Vieles vernichtet und verleugnet – gesprochen wurde kaum mehr über die Zeit, die nun zum Glück hinter allen lag. Das Land blickte nach vorn, der Wiederaufbau war wichtiger als die Schuldfrage. Leider geriet so einiges in Vergessenheit, es gibt kaum Aufzeichnungen wie Tagebücher oder Fotos. Leider sind mittlerweile auch viele ältere Menschen, die hätten noch etwas erzählen können, verstorben. Und ganz sicher haben die meisten das ein oder andere Erlebnis oder Geheimnis aus der damaligen Zeit mit ins Grab genommen.
Eigene Spurensuche
Da dies leider auch bei meiner Familie zutrifft, habe ich kaum Anhaltspunkte, wie meine Großeltern die Nazizeit erlebt haben. Es gibt jedoch Stellen in Deutschland, die vielleicht helfen können. So lässt sich beispielsweise in verschiedenen Abteilungen des Bundesarchivs eine Anfrage stellen, um Einsicht in militärische Akten zu erhalten. Werdegänge, inkl. Versetzungen und ggf. Beförderungen von Soldaten und Offizieren der Wehrmacht können so rekonstruiert werden. Auch Informationen über Kriegsgefangenschaft – in Ost wie West – sind über diese Stellen zu erhalten. Wer also seine eigene Familiengeschichte aufarbeiten möchte, hat dazu verschiedene Anlaufstellen.
Fazit: Heimat von Nora Krug
„Heimat“ hat mir ausgesprochen gut gefallen. Die Thematik selbst ist potenziell unbequem – wer möchte schon gern herausfinden, dass die eigenen (Ur-)Großeltern „rückratlose“ Mitläufer oder gar Schuldige waren? Mir hat jedoch die Mischung aus Dokumenten sehr gut gefallen, die Texte sind gut verständlich und teils sehr persönlich. Man taucht hier ein in eine Familiengeschichte, die stellvertretend für viele deutsche Geschichten stehen kann. Eine absolute Empfehlung meinerseits, denn sie regt wirklich an, sich mit der eigenen Herkunft zu beschäftigen. Auch jüngeren Leser*innen bietet die Graphic Novel einen gut aufbereiteten Einstieg in die Thematik und sensibilisiert für die eigene Vergangenheit.
Hier gibt’s den Trailer zum Buch mit einigen Innenansichten: