Vardø ist eine Insel nördlich des Polarkreises, die zur Finnmark bzw. Norwegen gehört. An Heilig Abend 1617 zog völlig unvermittelt ein Sturm los, der innerhalb von Minuten allen vierzig Männern, die zum Fischen auf See waren, das Leben kostete. Vor diesem geschichtlich belegten Ereignis spielt der Roman von Kiran Millwood Hargrave, die noch weitere historische Fakten zusammenbringt.
Darum geht’s:
Nachdem ein Sturm alle Männer der Insel Vardø umbringt, sind die Frauen fortan auf sich gestellt. Sie versuchen, in der unwirtlichen Natur, die die Insel zu bieten hat, und in einer archaischen Welt zu überleben. Das Auftauchen eines schottischen Kommissars, der für die Durchsetzung christlicher Gesetze, vor allem hinsichtlich Hexerei, sorgen soll, macht die Situation nicht einfacher. Im Zentrum stehen Maren, die auf der Insel geboren wurde, und Ursa, die junge unerfahrene Frau des Kommissars. Von ihrer ersten Begegnung an verbindet die beiden Frauen ein besonderes Band, doch für Absalom Cornet zählt nur eins: Die Insel im äußersten Norden Norwegens von teuflischer Sünde zu befreien.
Die Insel der starken Frauen
In der Nacht des Sturms sieht Maren vom Fenster aus, wie die Boote mit den Männern darin an den Klippen zerschellen und untergehen. Darunter sind ihr Vater, ihr Bruder Erik und ihr Verlobter. Sie bleibt, zusammen mit ihrer Mutter und ihrer schwangeren Schwägerin Diina sowie den anderen Frauen allein auf der Insel zurück. Von nun an übernehmen sie die Aufgaben der Männer. Schnell teilen sich die Frauen in zwei Lager: Die „Kirke“-Frauen, gläubige Anhängerinnen des Pastors der kleinen Insel, und die anderen, liberaleren Frauen – darunter auch Maren. Sie akzeptieren, dass unter ihnen auch Sámi wie Diina wohnen, die heidnischen Glaubens sind und Runen nutzen.
Der zweite Erzählstrang handelt von Ursa, der Tochter eines Schiffseigners aus Bergen in Norwegen, die mit Absalom Cornet verheiratet wird. Der Schotte, der in seiner Heimat erfolgreich Hexen verfolgt hat, ist auf dem Weg nach Norden zur Insel Vardø, um dort im Namen des Lensmanns John Cunningham für Recht und Ordnung zu sorgen. Seine junge und unerfahrene Frau Ursa muss ihn begleiten. In Vardø treffen die beiden Frauen und damit die Erzählstränge aufeinander. Die beiden Frauen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, nähern sich sachte an, während Absalom Cornet den Frauen ausschließlich mit Misstrauen begegnet, vor allem denjenigen, die nicht regelmäßig zur Kirche gehen.
„Ihnen allen, auch Kirsten, ist bewusst, dass sich die Dinge ändern werden, da der Kommissar von Vardøhus ein Auge auf sie haben wird. Die Hierarchien müssen beachtet werden, und zwar diejenigen, an die die Welt gewöhnt ist, nicht die Hierarchien, die man in Vardø kennt.“ (S.147)
Atmosphärisch, düster und bewegend
Die Insel Vardø liegt am nordöstlichsten Punkt Norwegens, umgeben von rauer See. Sie ist karg und die Frauen müssen die wenigen hellen Monate nutzen, um der Natur das Nötigste abzuringen, was sie zum Leben brauchen. Mit ihren detaillierten Beschreibungen schafft es Kiran Millwood Hargrave, die einzigartige Atmosphäre dieser Insel wiederzugeben. Als Leser spürt man förmlich die eisige Kälte, die in den Wintermonaten durch die Ritzen der Häuser zieht, man schmeckt das Salz auf den Lippen und spürt den stürmischen Wind in den Haaren. Begleitet wird die Geschichte von einer fortwährenden unterschwelligen Spannung, die den Leser immer tiefer in die Geschichte hineinzieht. Sie wächst bis zum Ende hin stetig an und lässt Düsteres erahnen, ohne dass es direkt greifbar ist. Neid, Missgunst und Hass spielen unter den Frauen eine ebenso große Rolle wie Hoffnung, Freundschaft und Liebe. Der Schreibstil ist nicht schwer zu lesen, aber außergewöhnlich und schafft es hervorragend, die Emotionen zu transportieren.
Fazit: Vardø
Mit Vardø ist der Autorin ein Roman gelungen, der vor allem durch die geschaffene Atmosphäre lebt. Man kann sich als Leser sofort in das harte Leben der Frauen hoch im Norden hineinversetzen. Sowohl Maren als auch Ursa sind jede auf ihre Weise fremdbestimmt in einer von Männern dominierten Welt. Das 17. Jahrhundert war gekennzeichnet durch religiösen Fanatismus, der seinen traurigen Höhepunkt in den unzähligen Hexenprozessen fand, vor denen nicht einmal eine kleine Insel nördlich des Polarkreises verschont blieb. Ein für mich wirklich gelungener Roman vor historisch belegtem Hintergrund, der mit einer atemberaubenden Kulisse und starken Charakteren überzeugen kann.