Macht ist ein Roman der norwegischen Schriftstellerin Heidi Furre, die bereits mehrere Bücher geschrieben hat. Dies ist jedoch das erste, das auf Deutsch erschienen ist, übersetzt von Karoline Hippe. Die Autorin arbeitet als Fotografin und lebt in Oslo.
Macht – Darum geht’s:
Liv ist Mitte 30, arbeitet als Pflegerin und lebt ein privilegiertes Leben mit ihrem Mann und den zwei Kindern. Alles könnte perfekt sein, doch Liv ist eine von zehn. Eine von zehn Frauen in Norwegen, die vergewaltigt wurden. Es ist Jahre her und kaum jemand weiß davon. Während Liv versucht, ein ganz normales Leben zu führen, dringt die alte Angst immer wieder durch die Ritzen. Alltägliche Situationen lösen Flashbacks und Panik aus, doch Liv tut alles, um dem schrecklichen Ereignis nicht die Macht über sich zu überlassen.
Eine von zehn…
Statistisch gesehen wird eine von zehn Frauen in Norwegen Opfer einer Vergewaltigung. Genauso nüchtern wie diese Zahl versucht Liv, das „Ereignis“, wie sie es nennt, zu sehen. In den meisten Fällen gelingt ihr das, doch als eine neue Patientin ins Pflegeheim eingeliefert wird, bringt das ihre mühsam aufgebaute Fassade ins Wanken. Der Bruder dieser Patienten war vor Jahren wegen einer Vergewaltigung angeklagt und freigesprochen worden. Immer öfter bahnen sich Livs Erinnerungen und die tief im Inneren vergrabenen Gedanken an die Oberfläche. Doch sie weigert sich nach wie vor, sich selbst als Opfer zu sehen, und trotz der Gefühle, die sie zu übermann drohen, will sie ihnen nicht die Macht überlassen.
„Ich hatte Angst, durch die Hand eines Mannes zu sterben, und jetzt liege ich hier neben einem anderen. Ich frage mich, ob Männer das wissen – dass Frauen Angst davor haben, übermannt zu werden.“ (S. 31)
Wichtiges Thema, gewöhnungsbedürftiger Stil
Ich finde es absolut wichtig und wirklich gut, dass sich die Autorin dieses Themas angenommen hat. An den Still musst ich mich allerdings ein wenig gewöhnen, auch wenn ich verstehe, warum er genauso gewählt wurde. Liv erzählt ihre Geschichte aus der Ich-Perspektive, allerdings nur grob chronologisch. Zwischendurch gibt es immer wieder Gedankensprünge, Erinnerungsfetzen und Überlegungen, die in Richtung „Was wäre wenn…“ gehen. Dabei bleibt die Protagonistin sehr reserviert, schon allein, weil sie ihre Gedanken kaum mit jemandem teilt. Nicht einmal ihr Mann weiß von ihrer Vergewaltigung. Entsprechend sprunghaft und beinahe nervös wirkt ihr Bericht.
Letztlich fand ich aber, dass genau dieses Sprunghafte die Story sehr gut unterstreicht. Es macht deutlich, wie zerrissen das Ereignis die junge Frau zurückgelassen hat. Wenige Minuten haben ihr gesamtes Leben verändert, das Ereignis hängt ihr bis heute nach. Es ist ein stetiger Kampf in ihrem Kopf, ihrem Herzen – in beinahe jeder Minute ihres Lebens. Sie kämpft ihn zumeist allein, vermutlich, weil sich zu offenbaren bedeuten würde, die Opferrolle einzunehmen. Und das möchte Liv mit aller Kraft vermeiden.
Fazit: Macht
Ich finde, Heidi Furre ist mit „Macht“ ein ausdrucksstarker Roman gelungen, der ein Tabuthema in den Fokus nimmt. Den meisten Frauen sieht man nicht an, was sie vielleicht erlebt haben, doch es gibt sie – nicht nur in Norwegen, sondern überall. Furres Buch sensibilisiert, rüttelt wach, macht wütend. Insgesamt sehr empfehlenswert!